Wir sind die fleissigsten Europäer. So steht es heute in der Zeitung geschrieben. Nirgendwo sonst in Europa wird mehr gearbeitet als hier. Und wie fleissige Ameisen krabbeln wir morgens und abends aus den Zügen, um auf den unsichtbaren Ameisenstrassen mit hundert anderen durch die Gänge und Hallen des Bahnhofs, unseres Ameisenhaufens, zu wimmeln. Einer schneller, fleissiger, als der andere. Einen freudlosen Ausdruck auf dem Gesicht haben wir meist, ernst in die Leere starrend, oder aber gestresst auf unsere überpünktlichen Armbanduhren blickend.
Auch ich bin zu einer Ameise geworden. In einem Ameisenstaat geht es nicht anders.
Kürzlich huschte ich wieder einmal aus dem Zug. Da drangen vertraute Klänge zu meinem Ohr hinüber, aus einem der verwinkelten, grauen Gänge des Ameisenhaufens. Ich näherte mich der Quelle des Klangs, doch ich spürte, wie mein innerer Antrieb mich vorwärts stossen wollte, zum Tram, zur Arbeit. Doch das Ameisendenken begann zu schwinden und bewusst schaltete ich meinen Instinkt aus. Wieso sollte ich auf das nächste Tram hetzen, wenn in zehn Minuten wieder eines fährt? Was sind schon zehn Minuten? Die Musik stammte von Los Yukas, Strassenmusiker aus Peru, Argentinien, Kuba, Brasilien... Das fröhliches Geigengefiedel, dazu Gitarrenklänge, das raue Ratschen der Güira, der Beat der Bongos, das flüsternde Rascheln, das nur kubanische Maracas erzeugen, die lebensfrohen Stimmen der Sänger – es war ein grandioses Zusammenspiel! Ein breites Grinsen zeichnete sich ab auf meinem Gesicht. Der graue Nebel, der sich wie draussen auf den kalten Strassen in meinem Inneren ausgebreitet hatte, begann sich zu lichten. Es war, als ob der erste Sonnenstrahl nach langer Dunkelheit durch die Ritzen einer Wand ins Innern eines dunklen Raumes scheinen würde. Ich spürte sogleich mein Herz frohlocken. Das kleine Flämmchen in meinem Innern, das nie jemand hatte auslöschen können, begann von neuem zu lodern. Und da war es wieder: Dieses Gefühl, dieses Verlangen, diese Unruhe, dieser Drang einfach aufzubrechen und alles hinter mir zu lassen. Dieses Reissen im brennenden Herzen, das schmerzhafte Zerren in der Brust, das einen aufzufressen scheint. Es ist diese Gier nach dem Unbekannten, diese Sucht nach Freiheit, das Bedürfnis nach Erlebnissen und Abenteuern, das Streben nach stetigem Aufbruch ohne je ankommen zu wollen. Traumsuche, Fluchtsucht, Reisefieber. Eine Krankheit? Ein Gift ohne Gegengift. Kann man sie heilen? Will ich sie überhaupt heilen? Fernweh ist Segen und Fluch zugleich. Und stärker als jedes andere Gefühl, das mich aufhalten könnte.
Ich wusste genau, wieso diese Gefühle jetzt wieder in mir aufzusteigen begannen. Erinnerungen wurden wach, an damals, als im Hotel im kleinen Nest am Tor zum Amazonas der gleiche Rhythmus von draussen in das spartanische Zimmer hereindrang und ich Tage später auf einem kleinen Kutter die Freiheit geniessen durfte, langsam auf dem Fluss der Flüsse dümpelnd, weit weg von Zivilisation und Stress.
Ein winziges Tränchen kullerte in dem Moment aus meinen Augen. War es Schmerz, Trauer, Verzweiflung, Nostalgie, Freude oder Hoffnung?
Schlagartig wurde ich aus meinen Tagträumen zurück gerissen. Ich verwandelte mich wieder zur Ameise im Ameisennest. Es war kalt draussen. Und ich musste zur Arbeit. Die schönen Fotos im Schaufenster des Reisebüros, an dem ich vorbei hetzte, der Duft von Kiwi und Mango auf dem Wochenmarkt, der Dunststreifen eines Flugzeuges am Himmel, ja sogar die auffliegende Taube, dies alles machte es nur noch schlimmer. Alles und alle schienen mir zu sagen: Pack deinen Koffer! Mach dich auf den Weg! Brich auf! Ab in die Welt! Am Ende der Strasse der Mexikaner: Hier kehren die einen aus Heimweh ein, die anderen aus Fernweh. Ich vielleicht ein bisschen wegen beidem.
Wie bei einer Ameise, die immer mehr den Drang verspürt, auf hohe Grashalme, Hügel oder Bäume zu klettern, wuchs das Verlangen auch bei mir.
Sollte mich demnächst jemand vermissen, macht euch keine Sorgen. Auch Ameisen können fliegen!
Posts mit dem Label Schweiz werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Schweiz werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Montag, 12. April 2010
Mittwoch, 6. August 2008
Aufbruch (Grüningen, Schweiz)
"Twenty years from now you will be more disappointed by the things that you didn't do than by the ones you did do. So throw off the bowlines. Sail away from the safe harbor. Catch the trade winds in your sails. Explore. Dream. Discover."
* Mark Twain *
Das Zitat von Mark Twain hat mich die letzten Monate geleitet, und mir geholfen die letzten Zweifel über Bord zu werfen.
Es ist ein tolles Gefühl, wenn der Rucksack gepackt ist. Zu sehen, wie man all seine Habseligkeiten die sich so durch die Jahre ansammeln, auf das wirklich Nötige reduzieren kann. 15 Kilos, für ein Jahr...
Ich lasse mich darauf ein, ohne Lohn zu arbeiten, lasse meine "sichere" Heimat zurück, nehme körperliche Strapazen in Kauf, und vor allem riskiere ich auch, vielleicht als nicht derselbe Mensch zurück zu kommen, wie ich losgehe.
Heute träume ich noch, doch bald erforsche und entdecke ich. Jetzt sind die Segel definitiv gehisst, und ab morgen bläst ein frischer Wind, der mich zuerst einmal über den Atlantik nach Campo Grande tragen wird!
* Mark Twain *
Das Zitat von Mark Twain hat mich die letzten Monate geleitet, und mir geholfen die letzten Zweifel über Bord zu werfen.
Es ist ein tolles Gefühl, wenn der Rucksack gepackt ist. Zu sehen, wie man all seine Habseligkeiten die sich so durch die Jahre ansammeln, auf das wirklich Nötige reduzieren kann. 15 Kilos, für ein Jahr...
Ich lasse mich darauf ein, ohne Lohn zu arbeiten, lasse meine "sichere" Heimat zurück, nehme körperliche Strapazen in Kauf, und vor allem riskiere ich auch, vielleicht als nicht derselbe Mensch zurück zu kommen, wie ich losgehe.
Heute träume ich noch, doch bald erforsche und entdecke ich. Jetzt sind die Segel definitiv gehisst, und ab morgen bläst ein frischer Wind, der mich zuerst einmal über den Atlantik nach Campo Grande tragen wird!
Sonntag, 29. Januar 2006
Melde mich zurück (Grüningen, Schweiz)
Seit nun genau 10 Tagen trifft man mich wieder in der Schweiz an. Hier muss ich mich nun wieder daran gewöhnen
Aber der nächste Urlaub wird irgendwann bestimmt kommen!!
- dass alle Busse nach Fahrplan fahren, und nicht einfach dann, wenn sie voll sind
- dass man VOR der Busfahrt ein Ticket lösen muss, und nicht einfach beim Aussteigen bezahlen darf
- dass man nicht vom Busfahrer verlangen kann, "an der naechsten Ecke" auszusteigen
- dass man an der Busstation nicht sofort gefragt wird, wo man hin will, und zum Bus geführt wird - nein, man muss selber lesen... und das Gepäck alleine zum Bus schleppen...
- dass man sich nicht neben zwei Personen auf den Zweier-Sitzplatz quetschen darf, auch wenn es locker Platz hätte - nein, man muss im Bus stehen!
- dass man das WC-Papier nicht im Papierkorb neben dem Klo entsorgen sollte
- dass man im Supermarkt für Plastiktüten bezahlen muss und dann erst noch die Einkäufe SELBER darin einpacken muss...
- dass hier Sonntags alles geschlossen bleibt.
- dass es nicht an jeder Ecke in jedem Quartier eine "pulpe" gibt, wo man sich mit allem lebenswichtigen eindecken kann
- dass es für Freunde wieder 3 Küsschen statt nur einem Wangenkuss gibt
- dass man mit seinem Bruder nicht Spanisch sprechen sollte - auch wenn man noch so verpennt ist - denn der versteht das nicht...
- dass es nicht zu jeder Mahlzeit Reis mit Bohnen und/oder Tortillas gibt
- dass das z auf der Tastatur da sitzt wo eigentlich das y ist und umgekehrt... und dann gibts da auch noch so was tolles wie üöä...
- dass in Restaurants der Ananas-Saft nach jahrelang in Zuckersirup eingelegten ekligen Dosenfrüchten schmeckt und nicht nach fruchtig frischer Ananas :'-(
- dass man nicht zu Fuss über die Autobahn spazieren sollte
- dass man hier private Verabredungen einen Monat im Voraus planen kann/muss
- dass es sich bei den Bretterbuden neben der Strasse nicht um Wohnunterkünfte handelt, sondern dass das einfach Schrebergärtchen sind - zum glück!
- dass die San José-Kälte von 15 Grad eigentlich gar nicht wirklich kalt ist
- ...und dass es auch noch einen Ernst des Lebens gibt, und der nennt sich Jobsuche!
Aber der nächste Urlaub wird irgendwann bestimmt kommen!!
Abonnieren
Posts (Atom)